
In Utrecht für Bonn lernen
Seit mehr als 30 Jahren hat die Stadt Utrecht einen inzwischen beispielgebenden Umgang mit den Themen Innenstadtentwicklung und Mobilität. Auf gemeinsame Einladung von Stadt Bonn und IHK haben 30 Personen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung sowie Handels- und Mobilitätsorganisationen die niederländische Universitätsstadt besucht. Mit dabei: unser Autor Lothar Schmitz, Wirtschaftsjournalist in Bonn.
Pünktlich um 10:23 Uhr erreicht der „ICE International“ den Bahnhof Utrecht Centraal. Er spielt im Wortsinn eine zentrale Rolle, nicht nur für die Stadt, sondern weit darüber hinaus. Utrecht ist mit derzeit rund 370.000 Einwohnerinnen und Einwohnern die viertgrößte Stadt der Niederlande. Der Bahnhof indes ist der größte unseres Nachbarlandes. Von dort fahren Züge in alle Richtungen des Landes, fast alle wichtigen Städte lassen sich in weniger als einer Stunde erreichen. Entsprechend hoch ist das Pendleraufkommen aus und nach Utrecht.
Wenige Minuten später versammelt sich die Reisegruppe im 16. Obergeschoss des Utrechter Stadthauses – ein modernes Gebäude direkt am Bahnhof – mit Blick über die gesamte Stadt. 30 Personen sind aus Bonn in die niederländische Metropole gereist, um mehr über die dortige Mobilität und Stadtentwicklung in Erfahrung zu bringen. Angeführt wird die Delegation von Bonns Oberbürgermeisterin Katja Dörner und IHK-Präsident Stefan Hagen. Mit dabei unter anderem: Wirtschaftsförderin Victoria Appelbe, mehrere Ratsmitglieder, IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Hubertus Hille, IHK-Verkehrsgeschäftsführer Prof. Stephan Wimmers, Stadtbaurat Helmut Wiesner, je ein Vertreter von ADFC und VCD und die Vorsitzende von Bad Godesberg Stadtmarketing e.V.


Das größte Fahrradparkhaus der Welt
Die Utrechter Stadtspitze nimmt sich Zeit für die Gäste aus Deutschland. Zunächst begrüßt Oberbürgermeisterin Sharon Dijksma die Delegation und stellt ihre Stadt vor. Bekannt in Deutschland ist sie nicht nur wegen der schönen Altstadt, sondern seit ein paar Jahren auch für das Angaben der Stadt zufolge größte Fahrrad-Parkhaus der Welt. Es befindet sich direkt am Hauptbahnhof und bietet auf drei unterirdischen Etagen 12.500 Fahrrädern Platz. Laut „Spiegel“ kommt in den Niederlanden die Hälfte aller Bahnreisenden mit dem Rad zum Bahnhof. In Utrecht kann man die enge Verknüpfung von Bahn und Rad besonders gut bestaunen.
Das steht allerdings später auf dem Programm, zunächst berichten Dijksma und die stellvertretende Oberbürgermeisterin Lot van Hooijdonk über die Schritte der vergangenen Jahre hin zur „weltweit fahrradfreundlichsten Stadt“ und zu einer Stadt, in der sich „gesund leben“ lässt. Utrecht hat in den vergangenen drei Jahrzehnten viel getan. So verschwand etwa eine 12-spurige Straße und machte einem Kanal Platz, wie es ihn dort über Jahrhunderte gegeben hatte. Viele weitere Straßen wurden zurückgebaut, so dass Autos nur noch langsam und in geringerer Zahl durchkommen. Auch viele Parkplätze in der Innenstadt verschwanden, die verbliebenen sind teuer. Gleichzeitig wurden weit über 200 Kilometer separate Radwege geschaffen und insgesamt fünf Radparkhäuser. Laut Oberbürgermeisterin seien nun die Fußgänger und Radfahrer „Könige der Straße“, die Autos nur noch „Gäste“.
Deutlich wird dabei: Viele Menschen können in Utrecht auf das Auto verzichten, weil alles Wichtige innerhalb von zehn Fußminuten zu erreichen sei. Das funktioniere, weil Utrecht über mehrere Zentren verfüge.
Zugleich steht Utrecht vor immensen Herausforderungen. Die Stadt ist die am schnellsten wachsende der Niederlande. In den vergangenen 20 Jahren nahm die Bevölkerung um 100.000 auf 370.000 zu, 2040 werden es bereits 470.000 sein. Dies erzeuge erheblichen Druck auf Wohnraum und öffentlichen Raum, gaben die Bürgermeisterinnen zu und präsentierten Ideen und Projekte zur Schaffung modernen neuen Wohnraums in Bahnhofsnähe.
Stadtrundgang mit Einblicken in Handel und Gastgewerbe
Nach dem Mittagessen führen die Zentrumsmanager Emiel Fonville und Jeroen Roose-Van Leijden die Gruppe durch die Innenstadt. Ein Schwerpunkt des Rundgangs: die Entwicklung von Einzelhandel und Gastgewerbe in der Altstadt. Hier erfuhren die Teilnehmenden unter anderem vom „Horeca“-Konzept der Stadt Utrecht. „Horeca“ steht für „Hotels, Restaurants, Cafés“. Die Stadt macht offenbar sehr konkrete Vorgaben dazu, in welchen Straßen und Straßenteilen entsprechende Angebote möglich sind und welche Flächen dem Einzelhandel vorbehalten bleiben. Gastronomische Angebote samt Flächen für Außengastronomie werden gebündelt, um so die Fußgängerströme besser zu leiten und den Passantinnen und Passanten einen möglichst einfachen Zugang zu den Läden und ihren Schaufenstern zu bieten, ohne dauernd wegen der Außengastronomie in die Straßenmitte ausweichen zu müssen.
„Es ist schon erstaunlich, dass so etwas möglich ist und offenbar akzeptiert wird“, kommentiert Tanja Kröber, Vorsitzende des IHK-Einzelhandelsausschusses und Mitglied der Bonner Delegation, diesen Ansatz. „In der Tat sorgt das für ein gleichmäßigeres, schöneres Stadtbild.“ Zudem sei es – wenn es denn zutreffe – bemerkenswert, dass in vielen Fällen die Immobilieneigentümerinnen und -eigentümer mit den Geschäftsleuten an einem Strang ziehen und nach gemeinsamen Entwicklungsmöglichkeiten suchen, um Leerstand zu vermeiden.


Diskussionsrunde mit Unternehmerin und Unternehmern
Die informative Tour endet vor dem historischen Gasthaus „Winkel van Sinkel“. Dort wird die Delegation von Hausherrin Zelda Czok erwartet sowie von Arjan Kleuver, dem Vorsitzenden des Utrechter Zentrummanagements, und Tom Broekman, Inhaber eines familiengeführten Modegeschäfts in der Altstadt sowie Eigentümer der Immobilie. Zugeschaltet per Video ist zudem der Logistikunternehmer Melchior Blok, der in Utrecht und anderen Städten unter anderem Lieferdienste auf „der letzten Meile“, also bis in die Fußgängerzonen der Citylagen, anbietet.
Die IHK hatte dieses Treffen mit Unternehmern und der Unternehmerin organisiert, um sich ein differenziertes Bild von der Entwicklung in Utrecht zu machen.
Die Unternehmerin und die Unternehmer bekennen sich in der Gesprächsrunde durchaus zur fahrradfreundlichen Politik der Stadtspitze. Man spürt den Stolz auf ihre Stadt. Dennoch machen sie deutlich, welche Probleme mit dem Wandel einhergehen – und dass diese längst nicht gelöst seien.
„Hier wurde mehr als deutlich, dass eine attraktive Stadt mehr ist als lediglich eine fahrradfreundliche Stadt“, resümiert später Dr. Hubertus Hille, Hauptgeschäftsführer der IHK Bonn/Rhein-Sieg.
So verweist Broekman beispielsweise auf Untersuchungen, denen zufolge Kundinnen und Kunden, die mit dem Pkw in die Innenstadt kommen, zweieinhalb bis drei Mal so viel ausgeben wie Menschen, die per Rad oder zu Fuß kommen. Zelda Czok sagt, sie wisse von Menschen aus dem Umland, die mit dem Pkw in andere Städte zum Einkaufen führen, weil die Fahrt nach Utrecht durch den Rückbau der Straßen viel länger dauere als früher.
Ein weiteres Problem: Parkflächen sind rar geworden. Und teuer. Offenbar zahlt man für einen kompletten Tag bis zu 50 Euro. Das gelte auch für Fahrzeuge von Handwerksbetrieben. Wer mitten in der Innenstadt großflächig umbaue und dazu über viele Monate oder ein, zwei Jahre täglich von mehreren Handwerksbetrieben angefahren werde, müsse durchaus mit 100.000 oder 200.000 Euro für Parkkosten kalkulieren – zusätzlich zu den Investitionen für die Modernisierung.
Immense Schwierigkeiten bei der Belieferung der City
Schließlich veranschaulicht Melchior Blok, wie kompliziert die Logistik auf der „letzten Meile“ geworden ist. In der City drohten über Jahre offenbar die Straßen entlang der Kanäle abzusacken. Deshalb sei die maximale Achslast für Fahrzeuge reduziert worden. Gleichzeitig schreite die Verkehrswende hin zu Fahrrädern und E-Mobilität voran. Die Folge: Wenn kein Diesel-Lkw mehr in die Stadt dürfe, müssten die Waren intelligent, etwa in Hubs am Stadtrand, auf kleine, saubere Fahrzeuge verteilt werden. Das führe aber letztlich zu viel mehr Verkehr in den Innenstadtstraßen. Und viele Geschäfte könnten nicht mehr täglich bedient werden.
Dazu der Kommentar von Tobias Kohnert, der für den Einzelhandelsverband Bonn Rhein-Sieg Euskirchen e.V. mit nach Utrecht gereist ist: „Das Fahrrad erscheint als ein vereinendes Kulturgut der Niederlande. Dennoch klagen auch in Utrecht Händlerinnen und Händler über ausbleibende Kundschaft und über eine restriktive Verkehrspolitik der Kommune. Die Politik sollte dafür Sorge tragen, alle Bürger und deren Belange, insbesondere in Richtung Wahl der Verkehrsmittel, in den Fokus zu nehmen. Egal, ob in Utrecht oder in Bonn.“

Fazit: Bemerkenswert – aber der Wandel braucht Zeit
IHK-Präsident Stefan Hagen, teilt diese Einschätzung. Zudem gibt er zu bedenken: „Utrecht ist uns um zwei Dekaden voraus. In dieser Zeit konnte die Stadt eine bemerkenswerte ÖPNV- und Fahrradinfrastruktur aufbauen, die den Menschen eine echte Chance bietet, die Nutzung des Autos zu reduzieren.“ Dies wünsche er sich auch für Bonn.
Zu dieser Infrastruktur zählen zum Beispiel auch Quartiersgaragen. Diese wurden – ein aus Sicht der IHK sehr kluges Vorgehen – gebaut, bevor Parkplätze abgeschafft wurden. „Solche Quartiersgaragen fehlen in Bonn leider“, bedauert IHK-Hauptgeschäftsführer Hille. Zudem sei ihm aufgefallen, dass bei vielen Bewunderinnen und Bewunderern des Utrechter Modells ein Faktum unter den Tisch falle: „In den Niederlanden ist die Pkw-Dichte insgesamt fast genauso hoch wie in Deutschland, die Zahl der Pkws pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner unterscheidet sich kaum“, sagt Hille. „Die ländliche Bevölkerung ist genauso auf das Auto angewiesen wie bei uns.“
Und dass Fahrräder nicht nur Probleme lösen, sondern mitunter neue schaffen, sei ebenfalls deutlich geworden. „Wie wir gehört haben, strebt Utrecht für bestimmte Innenstadtquartiere bereits die nächste Transformation an“, erinnert Hille: „Aus bestimmten Straßen sollen nun die Fahrräder verbannt werden, weil es dauernd zu Konflikten mit Fußgängerinnen und Fußgängern kommt.“
Was Hagen und Hille beeindruckte, war vor allem die systematische Planung der Mobilitätswende – auch auf Basis empirischer Untersuchungen – und der breite Dialog in der Stadtgesellschaft. „Wenn wir in Bonn genauso an einem Strang ziehen und im Übrigen auch über die Stadtgrenze hinweg wirklich zusammenarbeiten, kann auch hier eine Verkehrswende gelingen, die alle mitnimmt.“ Allerdings müsse dabei die Reihenfolge stimmen: „Erst eine attraktive alternative Infrastruktur schaffen, dann Zuwegungen begrenzen“, betont er, „nicht umgekehrt.“